Briefwechsel zwischen Berlin und Nord-Island – heute mit Post von mir an Myriam in Skeið über meine Lesung während der Leipziger Buchmesse, die Wahl Joachim Gaucks zum neuen Bundespräsidenten, deutsche Frauen in Island und den grünen Daumen beim Anbau von Kräutern. Here go to English version

Berlin, 22. März 2012

Liebe Myriam,
mir ist das Wasser im Munde zusammengelaufen, als ich von deinen Kräutern und Tomaten aus eigenem Anbau gelesen haben – so dass ich am Wochenende bei grandiosen 20 Grad mit dem Gärtnern auf meinem Balkon begonnen habe. Jetzt schick mir deinen grünen Daumen, damit das Grünzeug auch bei mir so gut gedeiht! Fortschritte macht immerhin schon mal mein Sprechtraining – und ich habe bei meiner ersten Frühjahrslesung in Leipzig während der Buchmesse letzte Woche kleine Erfolge gespürt. Höllisch aufgeregt war ich trotzdem. Doch ich fühlte mich wenigstens ein kleines Stückchen sicherer und habe den Abend viel bewusster gestaltet und wahrgenommen. Es beginnt mehr und mehr Spaß zu machen! Vielleicht steckt ja doch eine kleine Rampensau in mir.
Apropos Island-Buch: Ich habe jetzt endlich das Buch „Der Zuhörer“ von Ingibjörg Hjartardóttir gelesen, dass du übersetzt hast. Eine wunderbare Geschichte, traurig und schön zugleich. Und auch wenn es ein Roman ist, klingen das Schicksal und die Lebenswege der deutschen Frauen durch, die damals nach dem Krieg auf die isländischen Höfe gekommen sind – zwar freiwillig, aber irgendwie auch nicht. Hast du eigentlich in Island mal eine dieser älteren deutschen Frauen kennengelernt? Wie krass muss es für sie damals gewesen sein, nach Island, meist auf einsame Bauernhöfe, zu fremden Menschen zu kommen! Wenn ich mich an meine erste Zeit in Island erinnere… nachdem die erste Abenteuerlust und Neugier verflogen waren, hat mich das Heimweh doch auch manchmal sehr geschüttelt. Doch wir haben ganz andere Möglichkeiten und Bedingungen als die Menschen vor 60 Jahren – wenn ich allein an die grandiose Erfindung Internet, ans Mailen und Skypen denke…
Doch so weit muss ich gar nicht schauen, um das eigene, privilegierte Leben ohne Krieg, in Reichtum und in Freiheit vor Augen geführt zu bekommen. Am Sonntag ist Joachim Gauck zum neuen Bundespräsidenten gewählt worden – der Isländische Botschafter Gunnar Snorri Gunnarsson war live dabei, teilt die Botschaft von Island in Berlin mit. Gaucks Antrittsrede hat mir das verdeutlicht: Aufgewachsen in der DDR hat er erst mit 50 Jahren zum ersten Mal frei gewählt! Und auf den Tag genau 22 Jahre später ist er der erste Mann in unserer Republik. Hast du in Island von der Wahl etwas mitbekommen und verfolgst du die deutsche Politik ein bisschen? Hier in Berlin ist es manchmal ein komisches Gefühl, wenn ich mir vorstelle, dass nur wenige Kilometer entfernt plötzlich diejenige Politik gemacht wird und die Ereignisse stattfinden, von denen ich bisher immer aus der Ferne mitbekommen habe.
Was ganz Praktisches noch: Wieso hast du den Brief an mich komplett in Kleinbuchstaben verfasst? Das ist zumindest keine typisch isländische Sitte!

Frühlingshafte Grüße aus dem Straßencafé in Börlin,
Tina

ENGLISH VERSION

Penfriends from Berlin and Northern Iceland

Dear Myriam,
my mouth was watering when I read about your herbs and tomatoes from your own garden – so last weekend at 20 degree I have started gardening on my balcony. Now send me your green fingers! But my speaking training makes progress – and I was on my first reading this year in Leipzig during the book fair last week. I was fluttering, but I felt a little bit more confidently. So I have made the evening much more aware for me. It begins to make more and more fun! Perhaps there is a little limelight hog in me.
Speaking of Iceland-book: I’ve finally read the book „The Listener“ by Ingibjörg Hjartardóttir that you have translated. A sad and beautiful story at once. And even if it is a novel it describes the fates and lives of German women, who to Iceland after the Second World War. Did you actually know one of these older German women? It has been heavily in Iceland at that time, on solitary farms in a foreign country. If I remember my first time in Iceland after the first adventure and curiosity are gone I was homesick sometimes. But we have very different opportunities and conditions than people 60 years ago – when I think of the magnificent invention world wide web, email and skype …
But I have not even looking so far to see out own privileged life without war, wealth and freedom in mind. On last Sunday, Joachim Gauck been elected as the new Federal President – and Icelandice Ambassador Gunnar Snorri Gunnarsson was present, the Embassy of Iceland in Berlin informed. Gauck’s inaugural speech gave me the highlights: Grew up in East Germany he hasn´t voted free at the first time until the age of 50! And exactly 22 years after he is the first man in our republic. Do you have you noticed on the election? Here in Berlin sometimes I´ve a strange feeling when I imagine that only a few kilometers away the policy is shape.
Something practical at the end: Why did you wrote the letter to me in lower-case? At least that is not typical Icelandic style!

warmest greetings from a street café in Börlin,
Tina